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Schneefeuer
Eine Erzählung aus den Windlanden

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D

er Schnee gab das typische, knarzende Geräusch großer Kälte von sich, als Weitlichts Gewicht beim Darübergehen die verharschten Kristalle zusammendrückte. Die kalte Atemluft klebte ihr die Nasenflügel zusammen. Sie zog den Schal noch etwas dichter um das Gesicht und hoffte, dass der Wind nicht noch mehr auffrischen würde. Im Augenblick trieb er sie noch vorwärts - auf dem Rückweg würde sie gegen ihn ankämpfen müssen.

Vor ihr schimmerte der Schnee ein wenig anders im mittäglichen Dämmerlicht. Ohne nachdenken zu müssen, wich sie nach rechts aus, um nicht in die Schneewehe zu geraten. Die Fischrute auf ihrem Rücken schleifte am Boden, sie zog sie wieder ein Stück nach oben.

Hoffentlich war das Eis fest genug - in der Mitte des Flusses waren mehr Fische zu fangen als in Ufernähe. Weitlicht beschleunigte ihren Schritt. Die aus Hartgras geflochtenen Schneeschuhe knackten mit der vereisten Schneedecke um die Wette. Mit flinken Bewegungen löste sie die Riemen, um schneller voran zu kommen. Sie wollte viel fangen heute, ihr Vater sollte zufrieden sein mit ihr. Sie war das einzige Kind - und nur ein Mädchen.

Langsam wurde es heller. Die Sonne schien jetzt schon vier Stunden am Tag, und ihre Kraft wuchs immer mehr an. Trotzdem war die Zeit bis zur Schneeschmelze noch lang. Häufig würde das Licht bis dahin nur durch eine dichte Wolkendecke die Windlande erreichen, würde neuer Schnee fallen, würden Stürme das Leben erschweren. Weitlicht seufzte leise.

Im Sommer, wenn die Tage lang waren, begann die Zeit der Feste, und dieses Mal würde ihre Familie nach Osten ziehen, über die nördlichen Ausläufer der Berge hinweg. Die Schafnordener hatten starke, schöne Männer, sagte ihre Mutter. Einer davon würde sie heiraten, und dann könnte sie all den Schnee hinter sich lassen. Dort im Osten liege so wenig, dass man nie tiefer als bis zu den Hüften einsinken könne, sagte man. Weitlicht stieß in einer kindischen Aufwallung mit dem Fuß heftig in die Schneewehe neben ihr, so als könne sie dem verhassten Element damit wehtun.

In dem Augenblick, in dem sie den Fuß aus dem lockeren Schnee zog und einen Augenblick lang still stand, hörte sie das Geräusch. Es klang wie ein dumpfes Ächzen, und es kam aus dem Schnee neben ihr. Ein Tier, das durch den lockeren Schnee in eine darunterliegende Höhlung gefallen war? Natürlich. Kein Mensch würde in eine so eindeutig erkenntliche Wehe einbrechen. Jetzt schien es zu jaulen. Weitlicht wog Risiken und Chancen ab. Die Entscheidung war rasch gefällt. Ein einzelner Hase, vielleicht ein Pferd - oder gar ein Wolf, hilflos und geschwächt: Pelz und Knochen, Abwechslung zu Trockenfleisch und Fisch, und ihr Vater wäre vielleicht sogar ein wenig stolz auf sie.

Hastig legte sie die Fischrute, die Schneeschuhe und den Rückenbeutel ab und kramte aus dem Beutel das Hasenschulterblatt hervor, das ihr als Schaufel diente. Dann begann sie, ein trichterförmiges Loch schräg in den Schnee zu graben, auf die Geräusche zu. Sorgsam klopfte sie die Wände fest und formte mit geübten Schlägen Stufen hinein. Von unten winselte es. Ein Wolf, keine Frage. Weitlichts Herz klopfte. Sie hatte nur ein Messer.

Die Geräusche klangen jetzt näher, Pfoten scharrten von unten, schienen ihr entgegen zu arbeiten. Wieder ein klägliches Jaulen. Weitlicht legte die Schaufel hinter sich und zog das Messer mit der langen, geschwungenen Klinge hervor, das sie zum Fest ihrer Frauwerdung geschenkt bekommen hatte. Dann durchstieß sie mit dem Fuß die letzte, vereiste Schneeschicht. Leise klirrend fielen die Bruchstücke auf den Boden der Höhlung.

Geduckt stand sie da, das Messer in der Faust, und wartete auf den Wolf. Aber er kam nicht. Statt dessen hörte Weitlicht etwas, das sie nicht erwartet hatte. Es klang wie "Hih-wee", und es kam eindeutig nicht aus der Kehle eines Wolfes.

Vorsichtig, das Messer vorgestreckt, hockte Weitlicht sich hin, um in das Loch sehen zu können. Zwei dunkle Schatten lagen in der kleinen Schneehöhle. Die gelben Augen und gespitzten Ohren des Wolfes erkannte sie sofort. Der andere...

"Hih-we", ächzte er, und Weitlicht zuckte zusammen. Ein Mensch - nein, nicht nur ein Mensch: ein Mann! Welcher Mann brach bei dem klaren Wetter, das seit fast einer Woche herrschte, in eine so deutlich zu erkennende Schneewehe ein?

Wie auch immer - in seinem halb erfrorenen Zustand brauchte dieser Mann jedenfalls Hilfe. Sie kümmerte sich nicht um den Wolf, der sich immer noch nicht rührte, behielt ihn aber im Auge, während sie zu dem Mann hinüberkroch.

"Komm", sagte sie und zog und drückte ihn zu der Öffnung hinüber. Er bewegte sich unbeholfen und ächzte immer wieder leise. Seine Zehen waren vermutlich längst abgefroren. Wie es um seine Nase, seine Ohren und seine Hände bestellt war, würde sich im Tageslicht herausstellen. Sie zerrte ihn die Stufen hinauf. Inzwischen war es wieder ein Stück heller geworden. Die Sonne selber würde erst in einer Stunde kurz über die Bergspitzen des Mittelkammes blinken, aber der Himmel nahm bereits die Farbe alten Gletschereises an, und der Schnee begann, sein Blaugrau gegen strahlendes Weiß einzutauschen.

Weitlicht schwitzte vor Anstrengung und schob sich die Kapuze ihres Winterpelzes vom Kopf. Der Mann sank auf dem verharschten Schnee in sich zusammen. Sie kniete neben ihm nieder. Er hatte unter der Wollmütze seinen Schal um Mund und Nase gewickelt. Darüber schauten zwei helle graue Augen sie an. Behutsam hob sie den Schal an. Die Nase war zwar blaugefroren, sollte sich aber noch retten lassen. Die Hände steckten in dicken Fäustlingen. Einige Finger würde er wohl verlieren, aber auch da hielt sich der Schaden in Grenzen. Als sie sich jedoch den Füßen zuwandte, stockte ihr der Atem: Das waren keine Stiefel für den Winter. Das waren überhaupt keine Stiefel, wie sie sie kannte. Sie waren nur wadenhoch, hatten vorn eine Schnürung und saßen so eng am Fuß, dass das Futter höchstens einen Finger dick sein konnte. Da war vermutlich nicht mehr viel zu retten.

Der Schnee knirschte. Weitlicht schaute auf - der Wolf! Einen Augenblick lang hatte sie ihn ganz vergessen. Er kam auf sie zu, die Ohren aufmerksam nach vorn gestellt, die Rute pendelte leicht hin und her, seine ockergelben Augen im gelblich-weißen Fell fixierten sie. Weitlicht zog das Messer.

Der Mann rührte sich, versuchte, etwas zu sagen. "Freund" glaubte sie zu verstehen. Ob er den Wolf meinte? Das Tier war tatsächlich nicht aggressiv, als es nun herankam. Weitlicht steckte das Messer weg. Man erzählte sich Geschichten von Freundschaften zwischen Menschen und Wölfen, vielleicht waren manche davon wahr...

Sie packte die Schaufel wieder in den Rucksack und schulterte ihn und die Fischrute. Als sie sich wieder zu dem Mann umdrehte, lag der Wolf auf seinen Füßen. Wenn er das schon früher getan hatte, waren sie vielleicht doch noch nicht völlig abgestorben.

"Komm", sagte sie wieder. Wenn er nicht gehen konnte, musste sie ihn hierlassen und Hilfe holen. Vielleicht war es dann zu spät, aber sie hatte nun mal keinen Schlitten dabei, auf dem sie ihn hätte transportieren können. Sie hockte sich wieder neben ihn, packte ihn unter den Achseln und half ihm, sich aufzurichten. Als er endlich stand, legte sie seinen Arm um ihren Nacken, um so viel seines Gewichtes wie möglich zu übernehmen. Er humpelte und stolperte mehr als er ging, aber sie kamen vorwärts - auf dem Weg in die Wärme der Schneejurte, während der Wolf hinter ihnen hertrottete.

 

Zwei Wochen lang lag er krank, Fieber in den Augen, das kinnlange rote Haar klebrig vom Schweiß, nicht in der Lage zu essen. Weitlicht und ihre Mutter flößten ihm Tee ein, schließlich auch ab und zu ein wenig Milch oder Brühe, sie wuschen ihm das Gesicht mit dem struppigen Bart und den drahtigen Körper und legten ihm feuchte Wickel um die Waden. Die erfrorene Haut schälte sich, aber er hatte erstaunlich wenig Zehen verloren. Der Wolf wich nicht von seiner Seite.

Und dann kam der Tag, an dem der Fremde Weitlichts Mutter mit klarem Blick ansah, als sie an sein Lager trat. "Heiße Feuersieg, und jetzt hab ichs zum zweiten Mal geschafft", krächzte er heiser. Der Schlaf, der ihn gleich darauf übermannte, war endlich tief und ruhig.

Weitlicht hockte sich mit ihrer Näharbeit neben ihn und betrachtete ihn. Jetzt, ohne dass das Fieber seine Züge verzerrte, konnte sie sich der seltsamen Faszination, die er auf sie ausübte, erst recht nicht mehr entziehen. "Trutznoila", hatte ihre Mutter in ihrer wortkargen Art gesagt, als sie dem wimmernden Mann die unzureichenden Schnürstiefel von den Füßen zog. Mehr Worte hatte weder sie noch Vater dazu verloren.

Aber eigentlich war auch nicht mehr nötig. Trutznoila! Siedlungen mit Häusern aus Stein, die immer an dem selben Ort blieben; Menschen, die davon lebten, schöne Dinge herzustellen; das köstliche Korn, das es hier in den Windlanden nur als seltenen Leckerbissen gab, wenn Vater oder ein anderer aus der Sippe zum Handeln dort gewesen war, als tägliches Grundnahrungsmittel - und dort gab es noch weniger Schnee als bei den Schafnordenern. Dort ging es den Menschen so gut, dass sie sich nach Abenteuern sehnten und in die Berge gingen. Oder hierher, so wie Feuersieg.

Sie kostete den Namen ganz bewusst, und er schmeckte gut. Sein Mund hatte sich im Schlaf leicht geöffnet, und sie konnte gerade, gesunde Zähne sehen. Seine Wimpern waren so hell, dass sie beinahe erwartete, sie würden im Dunkeln leuchten. Wie alt mochte er sein? Sicher nicht älter als dreißig Jahre...

"Weitlicht? Du wolltest nähen." Weitlicht spürte, wie ihr bei den Worten der Mutter das Blut ins Gesicht schoss, und sie beugte sich rasch über die letzten Stiche an der neuen Unterhose für ihren Vater.

Als sie wieder aufsah, war Feuersieg wach. Zwei tiefe Atemzüge lang schaute er sie nur an, dann sagte er: "Ich habe Hunger."

Weitlicht sprang sofort auf und ging rasch zum Herd hinüber, froh, von seinem eisgrauen Blick fortzukommen, und gleichzeitig voller Eile, wieder zu ihm zurück zu gehen. Mit einem Becher Kräutermilch und einem Teller mit Trockenfleisch und einer Rispe Eisbeeren trat sie vor sein Lager und schaute auf ihn herab. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber er war noch zu schwach. Es schien ihm unangenehm zu sein, zu ihr aufzublicken. Sie stellte Teller und Becher ab, ohne ihn noch einmal anzusehen, drehte sich um und ging nach draußen, um den Vorrat an getrocknetem Dung in der Hütte aufzustocken und wieder Ordnung in ihre schwirrenden Gedanken zu bringen. Es gelang ihr nicht recht.


Hinweis der Herausgeberin: Diese Geschichte spielt im aktuellen Jahr 758, also 29 Jahre nach Windflugs Reiseführer.

 

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