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Der schwarze Ganter
Ein Märchen der Nasdewína

 

 

E

s heißt, der schwarze Ganter sei ein Bote. Es ist seit Jahrhunderten der selbe. Er ist eine Gans, und doch ist er ein Geist, der Geist der Freiheit, und wer ihn sieht, wird nie mehr derselbe sein. Die Sehnsucht nach dem Wind wird in ihm erwachen, und eines Tages wird er dem Ganter folgen und sich gleich ihm in die Lüfte schwingen. Er wird eine Ligawa werden, frei im Winde fliegen und jeden Frühling wiederkehren, um seine Familie wiederzusehen. Wer weiß, wie viele Ligawaa einst Nasdewína waren?

 

Einst lebte ein Nasdewín mit Namen Lontrif. Sein Gewerbe war das eines Zapfensammlers und Schnitzers. Und da er die Natur so sehr liebte, tat er seine Arbeit gern und mit Fleiß, und seine Schnitzereien zeigten sehr oft Tiere.

Eines Tages nun ging er wieder in die Berge, um Zapfen zu sammeln. Und da er so ging, kam er an einen Felsen, auf dem hatte eine Gans ihre Eier gelegt. Lontrif war froh, denn es heißt, es bringe Glück, eine Ligawa auf ihrem Nest zu sehen. Doch der Ganter fürchtete um seine Brut und ging zischend auf den Nasdewín los, so dass der sich schnell davonmachte.
Tags darauf kam er wieder an dieser Stelle vorbei, und wieder verteidigte der Ganter sein Nest.
Als Lontrif jedoch am dritten Tage das Gelege besuchte, blieben die Gänse ruhig. Wachsam beobachteten sie ihn, er aber setzte sich nieder und schaute ihnen zu. Und er vergaß dabei ganz seine Aufgabe. Erst als am Abend die Dunkelheit heraufzog und die Gänse die Köpfe unter die Flügel steckten, erschrak er, denn er hatte nicht einen Zapfen gesammelt.

Sein Planmacher Neniar aber war ein böser Nasdewín, der neidisch Lontrifs Schnitzkunst betrachtete, denn er selbst schnitzte nur mäßig. Und so freute dieser sich über Lontrifs Versagen, und er sprach zu ihm: "Gib mir dein Schnitzwerk, so will ich dich nicht bestrafen." Und Lontrif seufzte und gab ihm seine Arbeit.
Aber als er tags darauf wieder zum Sammeln loszog, fand er nicht nur einen Baum, der von Zapfen überquoll, sondern auch ein Stück Holz, wie man es nicht alle Tage bekommt. Und am Abend schnitzte er aus diesem Holz eine Gans, die sich rufend vom Boden abstieß. So schnell ging die Arbeit ihm von der Hand, und so wunderbar war sie ihm gelungen, dass alle sich verwunderten, Neniar aber vor Neid mit den Zähnen knirschte. "Das geht nicht mit rechten Dingen zu", dachte er sich, und so folgte er Lontrif am nächsten Tag heimlich, denn er wollte sehen, wo der Schnitzer sein Glück fand.
Dieser aber bemerkte nichts davon und lief direkt zum Nest der Gänse, um sich zu bedanken. Und als er fort war, kam der böse Nasdewín hinzu, lachte, nahm einen Stock und schlug nach den Gänsen, und dann stahl er eines ihrer Eier. Das legte er dem Lontrif heimlich in sein Bett und rief die Ältesten seiner Sippe zusammen, damit sie es sähen. Und empört über solchen Frevel erwarteten die Ältesten Lontrif, denn sie glaubten dem Planmacher.
Als Lontrif nun heimkehrte, empfingen ihn die Wachen und brachten ihn vor das Gericht, und niemand glaubte ihm, denn Neniar war ein großer Lügner und wusste sich zu verstellen.

Weinend saß Lontrif nun im tiefsten Kerker. Es war dunkel und kalt dort, und er bekam nichts als Wasser und rohe Zapfen zu essen. Auch seine Freunde kamen ihn nur besuchen, um ihn zu verspotten und zu bespucken. Und immer wieder kam sein Peiniger vorbei und schlug ihn und brachte ihm Holz, das musste er für ihn schnitzen, und Neniar wurde ein angesehener Nasdewín. Lontrif aber wurde krank vor Einsamkeit und Kummer.

Das Ei aber, das man auf Lontrifs Bett gefunden hatte, vergaß man völlig. Aber im Geheimen, in der Vorratskammer, in die man es gebracht hatte, schlüpfte bald ein seltsames Gössel, und niemand bemerkte, wie es heranwuchs.

Als nun eines Tages der böse Nasdewín im Kerker weilte und Lontrif mit Worten und Schlägen quälte, erhob sich mit einem Mal ein Wind hinter ihm. Er erschrak, denn der Kerker lag zu tief im Berg für einen natürlichen Wind. Und als er sich umdrehte, stand da ein riesiger schwarzer Ganter, der schlug mit den Flügeln, dass ihn fror, und er zischte, und Neniar schrie, denn er verstand, was die Ligawa sagte:
"Du bist ein böser Nasdewín! Ich bin ein Bote des Schöpfers, und ich sage dir: für das, was du getan hast, soll dich der Wahnsinn überfallen, und du sollst im Dunkel sein für den Rest deiner erbärmlichen Tage."
Und wimmernd brach der Nasdewín zusammen, und sein Verstand wurde verwirrt, so dass man ihn einsperren musste, und nur manchmal klärte sich sein Sinn, und dann jammerte und heulte er über sein Schicksal - Reue jedoch zeigte er nie.

Lontrif aber folgte dem Ganter ins Freie, und niemand wagte sie aufzuhalten.
Draußen angekommen, sprach die Ligawa zu ihm:
"Du hast nun die Wahl: Willst du mit mir kommen oder hier bleiben und ein angesehener Schnitzer werden? Für das Leid, das du erfahren musstest, soll dir ein gutes und glückliches Leben beschieden sein."
"Ach", sagte da Lontrif, "Ich möchte den Wind spüren und in den Süden fliegen. Ich möchte frei sein und die Sehnsucht des Frühlings spüren. Nimm mich mit, ich möchte eine Ligawa sein!"
"So sei es", antwortete der schwarze Ganter, und Lontrifs Arme wuchsen von seinem Körper weg und wurden breite, starke Flügel, und seine Beine schrumpften zu Wasserfüßen, und sein Hals streckte sich und ein Schnabel sproß ihm da, wo vorher sein Mund und seine Nase gewesen war. Und er reckte den Kopf und schrie den wilden Schrei der Berggänse, und er stieß sich ab und folgte dem schwarzen Ganter und flog mit dem Wind.

Und so wurde Lontrif der erste Nasdewín, der eine Ligawa wurde und dem schwarzen Ganter in den Wind folgte.

 

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